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21.6.2020

Wenn einer eine Reise tut ...

„Wir sind das Volk!“ erschallt es wieder landauf, landab - alles Querulanten, Rechtsradikale und Kurzzeit-Ministerpräsidenten a. D.? Welch infame Unterstellung! Die Anti-Corona-Einschränkungs-Demonstranten sind vielmehr heroische Unabhängigkeitskämpfer, ein regelrechter Volkssturm für die Verteidigung elementarer Menschenrechte. Einer von ihnen musste nun sogar den Rechtsweg beschreiten, um zu verhindern, dass Deutschland von einer autokratischen Ministerial-Nomenklatura mit der Diktatur des Coronariats überzogen wird. Worüber führte er Klage: dass Theater, Kinos, Schwingerclubs geschlossen sind; Eltern mangels Kita und Schule Probleme haben, ihre Kinder zwischenzulagern; gesellschaftliche und menschliche Beziehungen zu Wackel-Kontakten verkümmern; Schüler und Studenten ein halbes Halbjahr verlieren; Betriebe gefährdet sind und Arbeitnehmer mit Kurzarbeitergeld abgespeist werden; elektive medizinische Maßnahmen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag aufgeschoben sind; Maskenpflicht mit Atemnot, beschlagener Brille und Schlappohren? Und gar: DSDS ohne Publikum und ESC völlig futsch? Ach was, kleinkarierte Kinkerlitzchen, abgedroschene Phrasen! Nein, ungleich tragischer und existenzieller: Der Mann möchte Urlaub in seinem Ferienhaus in Schweden machen und hat keinen Bock, nach der Rückkehr wie ein Aussätziger in die Isolationsfolter (euphemistisch: Quarantäne) verbannt zu werden.

Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) hat dafür vollstes Verständnis: Im Hinblick auf die weltweiten Fallzahlen könne ein aus dem Ausland Einreisender nicht pauschal als Krankheits- oder Ansteckungsverdächtiger angesehen werden. Sehr richtig, vor allem nicht, wenn er aus Schweden kommt, dessen Infektions- und Todesrate zur Weltspitze zählt. Was soll das ganze globale Gedöns - in der Lüneburger Heide ist die Welt doch in Ordnung. Und nicht nur dort: Das OVG stellt fest, die Quarantäne-Anordnung „wird dem tatsächlichen Infektionsgeschehen und auch den durchaus unterschiedlichen Entwicklungen in den verschiedenen Ländern Europas und der übrigen Welt nicht gerecht. So gibt es durchaus Länder, in denen die Infektionsrate und/oder auch Sterberate derzeit deutlich unter der im Bundesgebiet liegt.“ Sodann vergönnt uns das OVG in dieser schweren Zeit eine Perle unfreiwilligen Humors: „Der Antragsteller selbst hat für die Region Südschwedens, in der sich seine Immobilie befindet, eine geringere Infektionsrate angegeben als für den Landkreis Harburg, in dem er seinen ersten Wohnsitz hat.“ Ist das nicht rührend? „2 x 3 macht 4, widdewiddewitt und 3 macht neune. Ich mach' mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt!“ Und das OVG nimmt das für bare Münze.

Die Welt ist aus den Fugen, aber der feine Herr aus der gehobenen Mittelschicht geruhen, nach Gretaland zu reisen, um in eigener Datsche von seiner aufreibenden, systemrelevanten Berufstätigkeit auszuspannen. Diese abgecoolte, souveräne Einstellung als Gegenpol zur grassierenden Corona-Paranoia ist schlichtweg vorbildlich. Pfeif auf die weltweite Warnung des Auswärtigen Amtes „vor nicht notwendigen, touristischen Reisen in das Ausland“. Papperlapapp, das ist bloß was für Spießer und Provinzler! Jetzt gilt es, nicht nur die freie Entfaltung der Persönlichkeit, sondern auch die Freizügigkeit in der EU zu verteidigen. Ohnehin ist aus Sicht des OVG die Reisewarnung völlig belanglos: „Der Hinweis auf die weltweite Reisewarnung des Auswärtigen Amtes überzeugt ebenfalls nicht, ist diese doch mit anderer Zielrichtung ausgesprochen worden [...]. Das Auswärtige Amt warnt vor nicht notwendigen touristischen Reisen ins Ausland, da weiterhin mit drastischen Einschränkungen im internationalen Luft- und Reiseverkehr, weltweiten Einreisebeschränkungen, Quarantänemaßnahmen und der Einschränkung des öffentlichen Lebens in vielen Ländern zu rechnen sei. [...] Vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus wird bezeichnenderweise nicht gewarnt.“ Hallo, liebes OVG, es dürfte ja wohl klar sein, dass das Außenministerium sich die Plattitüde verkneift, im Rest der Welt könne man sich mit Corona anstecken - das ist leider selbstverständlich und hinlänglich bekannt. Wozu gibt es denn in anderen Ländern Einreisebeschränkungen, Quarantänemaßnahmen und Einschränkungen des öffentlichen Lebens - eben weil dort Ansteckungsgefahr besteht. Stattdessen verweist die Reisewarnung auf ein eigenes 15-seitiges Merkblatt zu Covid-19 und auf die entsprechenden Webseiten der Weltgesundheitsorganisation, des Robert-Koch-Instituts, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, des Bundesgesundheitsministeriums, der Bundesregierung und der Johns-Hopkins-Universität - wozu wohl? Damit man die Immobilienpreise in Südschweden und im Landkreis Harburg vergleichen kann? Im Übrigen entging dem OVG rein versehentlich in der zur Zeit des Gerichtsverfahrens gültigen Fassung der Reisewarnung eine Passage, die ihm nicht in den Kram gepasst hätte: „Aus dem Ausland [...] Einreisende sollen sich für 14 Tage in Quarantäne begeben. Hierzu haben sich Bund und Länder auf einheitliche Quarantäneregeln verständigt [...]. Das Bundesgesundheitsministerium hat Regelungen für Einreisende erlassen, sich unverzüglich nach der Einreise auf direktem Weg in ihre eigene Häuslichkeit oder eine andere geeignete Unterkunft zu begeben und sich für einen Zeitraum von 14 Tagen ständig dort aufzuhalten.“

Dennoch hat das OVG am 11. Mai dem Touri recht gegeben: Reisende soll man nicht aufhalten - im Namen des Volkes.

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(21.6.2020)

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